Moritz, du bist Sportpsychologe beim Deutschen Tennis Bund und hast in deiner Berufslaufbahn schon viele Spitzensportler aus den unterschiedlichsten Sportarten gecoacht. Warum ist Sportpsychologie im Spitzensport eigentlich ein Thema?

Der Bedarf ergibt sich aus den mentalen Anforderungen und Herausforderungen, die im Spitzentennis auftreten. Die Spieler:innen haben sowohl in den Matches selbst, aber auch auf den Reisen und in sozialen Interaktionen mit Trainer:innen und der Konkurrenz viele Herausforderungen zu bewältigen. Da sich der Profisport immer weiter ausdifferenziert, rückt auch die Sportpsychologie seit einigen Jahren zunehmend in den Fokus der Professionalisierung. Es braucht vermehrt wissenschaftlich fundierte Fachexpertise, die den Spieler:innen und Trainer:innen in der Gesamtkomplexität helfen soll.

Ist es im Tennis noch einmal sinnvoller, sich sportpsychologische Hilfe zu besorgen? Und wie genau kann das im Spiel helfen?

Alle Sportarten haben ihre ganz eigenen mentalen Ansprüche und je höher das Niveau wird, desto spezifischer und individueller werden die Herausforderungen. Hinsichtlich unserer Sportart spielt zum Beispiel schon die Zählweise eine besondere Rolle. Etwa am Beispiel des diesjährigen French Open Finals zeigt sich, dass man sich trotz großer Führung und mehrerer Matchbälle nicht sicher sein kann, tatsächlich zu gewinnen. Sicher geglaubte Siege  drehen sich mit ein zwei Punkten und zwei Stunden später gewinnt der andere. In jedem Moment, so wird es ja von den Topstars immer wieder im Fernsehen gesagt, kann das Momentum kippen. Mit einer Führung oder einem Rückstand richtig umzugehen, ist daher entscheidend. Mentale Hilfestellungen, die man dann selbst anwenden kann, sind dafür extrem wichtig.

Darüber hinaus können im Tennissport auch andere mentale Faktoren großen Druck auf Spielerinnen und Spieler ausüben. Dazu gehört das gesamte organisatorische Setup hinter den Kulissen: Wie gehe ich mit der Favorit:innen- oder Außenseiter:innenrolle um? Bin ich gesetzt, wie viele Runden muss ich gewinnen, um mich für ein höheres Ziel zu qualifizieren, wie gehe ich damit um, eine Wildcard zu bekommen und mich nun beweisen zu müssen, etc. Wie führe ich kritische Gespräche mit meinem Trainerteam? Wie gehe ich mit Niederlagen um? All das können mental relevante Situationen sein, die man sich sportpsychologisch anschauen kann.

Wie gehe ich denn richtig mit einer Führung um?

Letztlich sind die Herangehensweisen so unterschiedlich, wie jeder Mensch individuell ist. Es geht aber immer darum, falsches oder dysfunktionales Denken zu erkennen, es umzustrukturieren und dann ins Verhalten zu transferieren. Das ist dann der herausfordernde und zu trainierende Teil für die Spieler:innen und Sportpsycholog:innen: Man achtet im Grunde genommen nämlich nicht auf den Spielstand, sondern kümmert sich um seine Gedanken und die spielerische Idee des nächsten Punktes. Das hört sich einfach an, ist es in der Praxis aber nicht immer sofort und stabil umsetzbar. 

Was würdest du sagen, hat sich in den letzten zehn Jahren in der Sportpsychologie am meisten verändert?

Die Sportpsychologie hat sich in den letzten Jahren in Ausbildung und Anwendung immer weiter professionalisiert. Die universitäre und postgraduale Ausbildung über die Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie in Deutschland (asp) verbuchen immer mehr Studierende, so dass die Sportpsychologie heute deutlich mehr ist, als nur das mentale Training, wie es viele aus den Inhalten der Trainerausbildungen kennen. Neben der angestrebten Leistungsoptimierung geht es gleichbedeutend und synergistisch auch um die Bereiche der psychischen Gesundheit und der Persönlichkeitsentwicklung. Hinter allen Spieler:innen verbergen sich junge und heranwachsende Menschen, die mit weitaus mehr Themen beschäftigt sind, als „nur“ mit der Niederlage oder der Führung umgehen zu müssen. Der systemische Blick ermöglicht eine Betreuung im ganzheitlichen Sinne. 

Kann die Psyche, die physische Verfassung eines Spielers beeinflussen? Und das sowohl positiv als auch negativ?

Definitiv! Wir müssen Kopf und Körper als eine Einheit begreifen, die sich gegenseitig beeinflussen kann. Darunter verstehen wir psychosomatische und umgekehrt somatopsychologische Prozesse: Wenn ich das Gefühl habe, krank zu werden, ist es wahrscheinlicher, dass ich mich tatsächlich krank fühle oder werde. Wenn andersherum das Match immer anstrengender wird, glaube ich auch eher, keine Energie mehr für den dritten Satz zu haben.
Je stärker ich mental bin, desto besser kann ich meinen körperlichen Zustand für ein Match auf das erforderliche Level aktivieren und Kopf und Körper zu Höchstleistungen treiben. 

Heißt das, du würdest psychische- und die physische Verfassung auf ein Level stellen?

Ja, letztlich bedingt es sich alles gegenseitig, spielt zusammen und ist dementsprechend gleichwertig zu betrachten.

Dann schauen wir doch mal auf den DTB. Dort gibt es ein großes Angebot an sportpsychologischer Betreuung. An wen richtet sich dieses Angebot vom DTB?

Die sportpsychologische Betreuung im DTB richtet sich an Spieler:innen des NK1, PK und OK. Daneben können auch die Bundestrainer:innen sportpsychologische Betreuung und einen sportpsychologischen Austausch in Anspruch nehmen.

Was für konkrete Formate für Trainer:innen gibt es?

Trainer:innen können wie Spieler:innen ganz unkompliziert das 1:1-Format in Anspruch nehmen. Telefonhörer in die Hand nehmen und anrufen. Der Rest ergibt sich wie eingangs schon gesagt aus einem sich entwickelnden Vertrauensverhältnis. Gleichzeitig müssen Trainer:innen erkennen, ob der sportpsychologische Austausch einen profitablen Mehrwert mit sich bringt.
Inhaltlich kann es sein, dass Trainer:innen den letzten Monat auf der Tour Revue passieren lassen und reflektieren wollen. Manchmal geht es um persönliche Themen oder den kollegialen Austausch, wie man Spieler:innen in bestimmten Situationen besser unterstützen kann.

Es gibt auch die Möglichkeit, online- Fortbildungsangebote zu verschiedenen Themen wie etwa „Richtig Feedback geben“, „neueste Coaching-Erkenntnisse“, „Umgang mit Stress“ oder Umgang mit schwierigen Persönlichkeiten“ durchzuführen. Wir können uns sehr flexibel den Bedingungen, Gegebenheiten und Notwendigkeiten der Trainer:innen anpassen.

Abschließende Frage: Sollte sich jeder Tennisspieler in Deutschland sportpsychologische Unterstützung besorgen?

Nein und Ja. Einer meiner Ausbilder hat den Satz geprägt, dass man keine Sportpsychologen braucht, es aber gut sei, wenn man ihn gebrauchen kann. Dahinter steckt die Grundannahme, dass nicht jeder immer sportpsychologische Unterstützung im pathologischen oder dsyfunktiolen Sinne braucht. Es gibt viele Spieler:innen und Trainer:innen, die sehr gut mit ihren Themen umgehen können. Die gleichen Personen kommen aber vielleicht auch mal in Situationen, in denen die Sportpsychologie eine neue Perspektive bieten und sich dadurch neue Denk- und Handlungsspielräume erschließen. 

Es dürfen keine Abhängigkeiten entstehen, sondern wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten. Sportpsychologie will, dass wir mit den Herausforderungen Schritt für Schritt immer besser auch allein zurechtkommen, um uns im Lebensalltag kompetent zu fühlen. 
Das schließt gleichermaßen aber auch nicht aus, dass die Sportpsychologie auch eine karrierebegleitende Konstante sein kann. Viele sich uns anvertrauende Athlet:innen nutzen die Sportpsychologie zur kontinuierlichen Reflexion, um sich zu aktualisieren und die Themen für sich klar zu ordnen. Das fördert auch eine emotionale Distanzierung von belastenden Themen und sorgt so für mentale Klarheit.

Spielerinnen und Spieler, die professionell Tennis spielen wollen, empfehle ich zumindest offen für ein Kennelerngespräch zu sein, um auszuloten, was gemeinsame Themen sein könnten und welche Rolle die Sportpsychologie besetzen könnte. Im Profi-Circuit ist es mehr und mehr Normalität, das Sportpsycholog:innen zum Team dazugehören. Und diese Zugehörigkeitbildet sich nicht per se in einem täglichen Kontakt ab, sondern kann ganz individuell und nach Bedarf bei gleichzeitiger Sicherstellung der Effektivität genutzt werden.

Vielen Dank für diese spannenden Einblicke und das Interview Moritz. 

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